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In der Wildnis gab ich ihm mein Wort

 

 

Das Versprechen, das der Fremde mir abrang, klang absurd und es war so seltsam und erschien mir so unsinnig, dass ich zustimmte.

 

Ich wusste nicht, wie er hieß, wusste nicht, wer er war, noch was er hier in der Abgeschiedenheit der Wälder Virginias verloren hatte. Alles, was ich über ihn sagen konnte, beschränkte sich auf sein Äußeres, auf das, was er von sich gab, was nicht gerade viel war, und dass er mir dieses abstruse Versprechen abverlangt hatte. Schwarze Haare lagen erschöpft auf seinen Schultern. Graue Strähnen erzählten von vergangenen Jahren. Seine Wangen bedeckte ein gräulicher Dreitagebart, die Krähenfüße in seinen Augenwinkeln zeugten auf bestimmte Art von einem lebendigen Charakter. Blaue Augen, die viel gesehen hatten, aber darüber schweigen wollten. Schwarzes T-Shirt, schwarze Hose, schwarze Schuhe. Er trug nichts mit sich.

Ich steuerte meinen Wagen weiter auf der kurvigen Straße durch die schattigen Wälder in Richtung Norden, die zugleich bedrohlich als auch reinigend wirkten. Seit einer Stunde war mir kein anderer Wagen entgegengekommen. Seit einer halben Stunde saß der Fremde auf dem Beifahrersitz. Einmal habe ich ein Reh am Straßenrand gesehen.

 

Während die Sonne wie ein Bluthund an unseren Fersen hing, überlegte ich, ob es klug gewesen war, den Mann mitzunehmen. Ich hatte bisher keine schlechten Erfahrungen mit Anhaltern gemacht. Oft sprangen dabei spannende Geschichten heraus. Ich mochte gute Geschichten. Aber irgendwie hatte der Kerl etwas Unheimliches. Sein Schweigen war massiv. Sein Nichtbeantworten meiner Fragen stoisch. Sein Blick starr geradeaus. Er schwitzte, verzog ab und an das Gesicht, auch saß er recht steif auf dem Beifahrersitz, als wäre dieser das Unbequemste, auf dem er je gesessen hatte. Er hatte an diesem unscheinbaren Waldweg am Straßenrand gestanden, die Hand gehoben, ich hatte kaum Zeit zum Nachdenken gehabt und auf die Bremse gedrückt. Er war eingestiegen, hatte mit einer Krähenstimme ,Danke fürs Anhaltenʻ gesagt und ich war weitergefahren. All die Fragen, die man solch einem Kerl in der einsamen Wildnis stellt, hatte er unbeantwortet gelassen. Wenige Male hatte er genickt, einmal den Kopf geschüttelt. Und ansonsten hatte er mir nur dieses Versprechen abgenommen.

Wirklich bedrohlich wirkte er nicht auf mich. Ich hatte keine Angst. Seine Wortkargheit, das Ausbleiben von Antworten und seine ungewöhnliche Forderung allerdings nährten leise Zweifel, ob es eine gute Idee gewesen war, ihn mitzunehmen.

 

„Ich heiße übrigens Dylan“, sagte ich.

Er nickte.

Nahe liegend wäre gewesen dann zu fragen: Und wie heißen Sie? Aber ich wollte nicht. Ich wollte, dass er es von sich aus sagte.

Schweigen. Laute Stille. Nur das Surren der altersschwachen Klimaanlage und das Rauschen der Straße. Ab und an schnaufte er laut, fast ein unterdrücktes Stöhnen, als hätte er Schmerzen.

Das Ausbleiben von Worten war Nahrung für meine Phantasie. Wie ein entflohener Verbrecher sah er nicht aus. Eigentlich konnte ich überhaupt nicht sagen, wonach er aussah. Nach einem Mann, der für sich bleiben wollte. Da ich nichts über ihn erfuhr, war ich geradezu gezwungen, über seine Forderung nachzudenken.

 

„Sie müssen es mir versprechen!“, hatte er wiederholt, diesmal mit knirschenden Zähnen.

„Das ist doch verrückt!“

„Tun Sie es schon! Versprechen Sie es mir.“

Ich hatte den Kopf geschüttelt, nicht als Ablehnung, sondern aus Unglauben. Ich hielt es für einen Witz. Einen sehr seltsamen.

„Na gut, ich verspreche es.“

Ich hatte dabei etwas spöttisch gelacht, aber er schien zufrieden. Er hatte sich kurz zurückgelehnt, die Augen geschlossen, dann wieder geradeaus gestarrt.

 

Die Hitze des Tages hielt uns mit eiserner Faust, daran konnten weder die Klimaanlage noch der Fahrtwind viel ändern. Ich schwitzte. Er schwitzte noch mehr. Sein Gesicht war nass. Er stöhnte wieder. Noch immer belagerte seine Forderung mein Denken.

 

,Wenn ich sterbe, müssen Sie mich verbrennen.ʻ

 

Und in seinen Worten hatte solch eine intime Dringlichkeit gelegen, dass ich schließlich zugestimmt hatte.

Jetzt hatte ich diesen seltsamen Mitfahrer, dichter Wald auf beiden Seiten der Straße und war allein mit meinen Gedanken. Eine unsichtbare Aufziehschnur zog uns Richtung Norden. Hin und wieder warf ich einen Blick auf ihn. Seine schwarze Erscheinung war wie ein dunkler Fleck in meinem Wagen, der das Sonnenlicht zu absorbieren schien. Ich versuchte nicht weiter über das Versprechen nachzudenken. Der Kerl war wohl einfach etwas verwirrt, vielleicht auch verrückt. Oder er erlaubte sich einen makabren Scherz mit mir. In der nächsten Ortschaft würde ich ihn absetzen und hinter mir lassen.

Er begann zu husten. Er hörte nicht mehr auf.

„Brauchen Sie einen Schluck Wasser?“

Er schüttelte den Kopf, hustete nur weiter in seine Hand und als er selbige öffnete, klebte Blut auf der Innenfläche.

„Ach du Scheiße!“, rief ich. „Sind Sie verletzt? Soll ich zu einem Krankenhaus fahren?“

Er schüttelte wieder den Kopf. Seine Hand fuhr an seine rechte Seite und offenbarte noch mehr Blut. Ein paar Worte wollten über seine Lippen, aber seine Stimme ging in weiterem Husten unter.

„Verdammt, was ist denn passiert? Hatten Sie einen Unfall?“

Erneut der Anflug eines Kopfschüttelns, glaubte ich zumindest.

Ich gab noch mehr Gas. Der Kerl brauchte einen Arzt. Wir mussten schnell raus aus diesen endlosen Wäldern und runter von dieser gottverlassenen Straße.

 

Wo war ich hier nur reingeraten? Mit dem Kerl hat doch von Anfang an etwas nicht gestimmt.

Die Bäume rauschten an uns vorbei, der Asphalt brüllte uns hinterher.

„Kann ich irgendetwas tun? Verdammt noch mal, sagen Sie doch endlich etwas!“

Panik kratzte an meinen Rippen.

Der Mann verkniff lediglich die Augen, hielt sich die Seite. Er atmete in kurzen, knirschenden Stößen.

 

Ich quälte den Wagen voran. Auf dem Mars konnte es nicht einsamer sein. Das Gesicht des Mannes wurde bleicher, ein Gespenst war gebräunt gegen ihn. Ich hatte nicht mal einen Erste-Hilfe-Kasten im Auto. Der Typ würde mir hier doch nicht verbluten!?

Als hätte er meine Gedanken gelesen, griff er zitternd in seine Hosentasche, holte einen kleinen Gegenstand heraus und hielt ihn mir wortlos entgegen.

„Auf keinen Fall!“, sagte ich, schrie ich eher.

Er schaute gequält, hustete wieder und ließ dann die Streichholzschachtel in meinen Schoß fallen.

„… versprochen“, ächzte er fast stimmlos.

Ich sagte nichts. Stattdessen drückte ich das Gaspedal auf die Karosserie. Beide Hände schwitzten am Lenkrad, in meinem Schoß lauerte die kleine Schachtel. Mein Kopf war leer und voll. Wie eine Wüste, die doch voller Sand ist. Mein Herz schlug unrhythmisch, meine Beine verkrampften, mein Magen rebellierte.

Ich blickte zur Seite. Sein Kopf lehnte am Fenster. Seine Arme hingen herab. Ich konnte keine Atmung mehr sehen oder hören.

„Hey, Mann, wach bleiben!“ Ich rüttelte an ihm. „Bleiben Sie wach, verdammt!“

Keine Reaktion.

„Fuck!“

Meine Kehle war zugeschnürt, mir wurde schlecht. Rasant nahm ich eine Kurve, noch immer keine Anzeichen bewohnter Gegend. Zögerlich fasste ich an das Handgelenk des Mannes, fand keinen Puls, auch nicht am Hals.

Ein Reh stand auf der Straße. Die Bremsen kreischten, verschmortes Gummi, der Wagen schlingerte, dann kamen wir am Straßenrand zum Stehen.

 

Meine Atmung beruhigte sich nur langsam. Das Reh suchte ich vergeblich im Rückspiegel. Alles war ruhig. Die Zeit schien still zu stehen. Ich weiß nicht, wie lange ich dasaß. Zeit hatte keine Bedeutung. Die Erde ruhte in sich selbst. Alles war betäubt.

Dann öffnete ich die Fahrertür und stieg aus. Die Sonne verbarg sich hinter einer einzigen großen Wolke. Vor der Beifahrertür blieb ich stehen, lange, undefinierbar lange. Sein dunkles Haar wurde gegen das Fenster gedrückt. Dann öffnete ich die Tür, hievte den leblosen Körper aus meinem Wagen, die Beine schleiften über den Boden. Ich legte ihn vor einem kleinen Felsen ab, zwei Meter von der Straße entfernt. Noch einmal suchte ich seinen Puls. Noch einmal fand ich ihn nicht.

Ich stand da, er lag da, mein Kopf war irgendwo, meine Gedanken suchten sich selbst. Die Streichholzschachtel, ich zog sie langsam heraus. Irgendwo schrie ein Vogel, zweimal, dreimal, dann wieder Stille. Eine lange Stille. Irgendwann das erste Streichholz, welches in zwei Teile zerbrach. Das zweite fiel auf den Boden. Das dritte schließlich zitterte in meiner Hand, verbrannte mir fast die Finger, ehe es ein kleines Loch in das schwarze T-Shirt des Mannes brannte und verlosch. Nacheinander zündete ich die Hälfte der Hölzer an. Es stank. Es kokelte. Viel mehr nicht. Ich ging zurück zum Wagen und holte aus dem Kofferraum eine Wodkaflasche, die noch zu zwei Dritteln gefüllt war. Mit tauben Gedanken und klammen Fingern leerte ich die Flasche über dem Körper aus. Nacheinander entzündete ich die restlichen Streichhölzer und allmählich fraß sich das Feuer über die schwarze Gestalt.

Ich hätte nicht gedacht, dass der menschliche Körper so schwer in Brand zu setzen war. Doch schließlich hatte er Feuer gefangen. Der Gestank ohrfeigte mich.

Stumm blickte ich auf mein Versprechen hinab. Keine Gedanken übrig an die Konsequenzen. Keine übrig für Beginn und Ursache dieser Geschichte. Als das Gesicht zu schmelzen begann, stieg ich in meinen Wagen und fuhr weiter.

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