Rot
Die Straße hat einen seltsamen Namen und ich frage Andre, warum die Straße so heiße.
Keine Ahnung. Sei doch auch egal.
„Geht man ja auch nur zum gucken und zum ficken rein.“
Die kalte Nacht umhüllt uns und ich finde ihre Berührung angenehm, beinahe zärtlich. Die Straße, die langgezogen vor uns liegt wie hingeworfen und festgetreten, ist in rotes Licht getaucht. Natürlich ist es rotes Licht. Was sonst. Die Temperatur liegt knapp über Null, aber in diesem Moment ist mir nicht mehr kalt.
Mein Blick wandert von Schaufenster zu Schaufenster und dabei fühle ich mich nicht allzu wohl. Mir gefällt nicht schlecht, was ich sehe und ich müsste lügen, wenn ich behaupte, ich käme dabei nicht auf Ideen. Aber ich kann mich dem Gedanken nicht verwehren, dass wir an einer Fleischbeschauung teilnehmen.
Ich kann meinen Blick nie lange auf ein Detail richten. Es reicht gerade aus, um entweder lange Beine zu begutachten, ein paar schöne Brüste hinter wenig Stoff oder ein zu stark geschminktes Gesicht. Verweilen die Augen zu lange in einer Richtung, fliegen uns sofort eindeutige Einladungen zu. Mir fällt es schwer dabei nicht allzu naiv zu sein. Aber ein klein wenig freue ich mich, wenn mir eine der Frauen „Hübscher“ oder „schöner Mann“ entgegenruft, weich und zärtlich wie mit Kusshand. Auch wenn ich weiß, dass man sich darauf nichts einzubilden braucht. Hier in der Straße werden wahrscheinlich die meisten Männer mit derartigen Namen gelockt.
Wir laufen im roten Licht, das die Nacht immer mehr verdrängt und uns in ihre warmen Arme schließt. Ich fühle mich dabei auch ein wenig, als liefen wir im Lichtkegel eines großen Suchscheinwerfers, dem keine unserer Bewegungen entgeht.
Das rote Licht spiegelt sich in Andres Augen. Sein Gesicht leuchtet, seine dünnen Lippen sind zu einem Lächeln geformt, verwegen vielleicht, auch verschmitzt.
Warum die Straße aber zum Beispiel nicht Albertstraße heißen würde, frage ich.
Wen interessiert’s, sagt Andre und bleibt stehen. „Also, was ist? Gehen wir rein?“
Andre sieht mich an.
„Wie, du willst da rein? Frauen angucken, fragen wie viel und dann wieder gehen, oder was?“
Andre sieht mich weiter an.
„Mann, Andre, wie alt sind wir denn? Das ist doch ’ne Mutprobe für Sechzehnjährige.“
„Es geht ja auch nicht um irgendeine kindische Mutprobenkacke. Ich will da rein und erst nach zwanzig Minuten wieder rauskommen.“
Jetzt weiß ich nicht mehr, wer wen ansieht.
„Ich will da rein und ficken.“
Ich suche den Witz hinter seinen Worten, warte darauf, dass er anfängt lauthals zu lachen, mir auf die Schulter schlägt und sagt, ich müsse mal mein Gesicht sehen. Er sieht mich nur weiter an und seine Augen sind zwei Messer.
„Willst du mich verarschen? Meinst du das jetzt echt ernst?“
Sein Blick beantwortet meine Frage. Und da ist auch wieder sein Lächeln, weniger verschmitzt diesmal, eher herausfordernd, auch ein wenig spöttisch.
„Was ist mit Jenny?“
Was mit ihr sein solle. Er zieht eine Zigarette aus seiner Schachtel und steckt sie zwischen seine Lippen wie einen Fremdkörper.
„Mach ich nicht das erste Mal.“
Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, sage ich.
Müsse ich auch nicht. Entweder ich käme mit rein oder ich solle eben draußen warten.
Er zieht noch einmal kräftig an seiner Zigarette, dann wirft er die Hälfte auf die Straße. Er dreht sich um und steuert ein Gebäude auf der anderen Seite an. Das rote Licht umrundet ihn wie Wasser einen großen Stein in einem Flussbett. Dann verschwindet er in einer Tür, als hätte ihn ein zahnloser Schlund mit einem blitzschnellen Gähnen verschluckt.
Ich bin so perplex wie ein Hund, dem man den Busch unter dem erhobenen Bein weggezogen hat. Eine der Frauen kommt zu mir und ich sage höflich nein, danke. Sie sagt, sie sei die Beste hier und ich glaube ihr sogar. Sie hat rote Haare und blonde Lippen. Ich lasse sie stehen, mit ein wenig Bedauern, nicht weil ich es bereue nicht mit ihr zu gehen, sondern weil ich Angst habe, sie verstehe es falsch, als sei sie nicht begehrenswert. Das ist sie und sie ist schön. Sind nicht alle Frauen schön, die mit dir schlafen wollen, auch wenn sie es für Geld tun? Sie wollen doch trotzdem dich, oder?
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich meinen Gedanken gerade vertrauen kann. Meine Ideen und Erinnerungen, diese gedanklichen Konstrukte, die normalerweise ordentlich und aufgeräumt in meinem Kopf aufbewahrt sind, fallen und rollen nun durcheinander als habe jemand ein Regal samt Inhalt umgeworfen.
Ich will die versteckte Kamera suchen, aber ich weiß, dass ich sie nicht finden werde. Weil keine da ist. Das rote Licht beginnt an mir abzutropfen und mich nicht mehr zu wärmen. Als wäre ich gerade aus einem Schwimmbecken gestiegen. Die Nacht ist dunkel und hell zugleich. Die kalte Luft beginnt meinen Körper zurückzuerobern. Ich warte darauf, dass Krokodile vom Himmel regnen.
Meine Gedanken, die ein Scherbenhaufen auf dem Boden sind, finden den Weg zu Jenny und Miriam. Die beiden sitzen in der Kneipe, vor der wir uns von ihnen verabschiedet haben. Ich weiß, es sind seitdem höchstens zehn Minuten vergangen, aber es kommt mir vor als hätten sich Kontinente in diesem langen Zeitraum unbemerkt voneinander entfernt und eine neue Weltkarte geschaffen.
Aber nur mit Gummi, Jungs, habt ihr gehört? Das hat Jenny uns nachgerufen und dabei hat sie gelacht, als müsse sie sich keine Sorgen machen und ich habe auch so gelacht. Aber jetzt mache ich mir Sorgen, auch wenn es mich genau genommen nichts angeht, aber irgendwie ja doch.
Ein Stöhnen kommt aus einem der Häuser, ein urzeitliches Ächzen, das sich seit Jahrtausenden nicht geändert hat. Noch ein Stöhnen, aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Ich frage mich, ob es von Andre kommt. Dann wäre es sehr schnell gegangen. Ich kann nicht darüber lachen.
Könnte ich mich in eine Prostituierte verlieben, frage ich mich und ich weiß nicht, wer oder was diesen Gedanken in meinen Kopf geworfen hat. Ich glaube nicht. Aber ich kann die Frage niemals sicher mit nein beantworten. Weil ich nie weiß, ob es nicht doch passieren könnte, wenn es noch nicht passiert ist. Ich kann die Frage mit ja beantworten, wenn es passiert ist. Aber ein Nein kann mir niemand beweisen, ich am allerwenigsten.
Die Frauen hören auf mich anzusehen und versuchen nicht mehr mich anzulocken. Sie haben gemerkt, dass ich nicht mit einer von ihnen mitkommen werde. Ich könnte davon beleidigt sein, bin es aber nicht. Welches Recht hätte ich auch dazu? Ich sollte mir Sorgen machen, dass die Frauen nicht beleidigt sind, weil ich nicht mit ihnen gehe. Sie sehen schön aus und ich kann mir vorstellen, dass sie einem schöne Momente schenken können. Aber die Momente wären nicht echt. Doch, natürlich wären sie das. Jeder Moment ist echt, egal was darin passiert. Sie wären echt und wahrhaftig. Aber anders echt. Anders, als die Echtheit, die Miriam und mich verbindet.
Ich ertappe den Hinterhalt eines Gedankens, ehe er voll zuschlagen kann. Ob die Frauen alle freiwillig hinter diesen Schaufenstern stehen, den Blicken und Begierden ausgesetzt. Ob sie es gar gerne tun. Ich komme mir sehr kindisch vor, als redeten Erwachsene über ein Thema, für das ich noch zu klein bin. Und ich schäme mich ein wenig. Dabei bin ich dreiundzwanzig. Ich weiß was in den Häusern passiert und habe es selbst schon getan, natürlich. Trotzdem. Ich habe das Gefühl, hier passiert etwas, dessen Dimension mein Begriffsvermögen übersteigt.
Ein Mann verschwindet in derselben Tür, hinter der Andre verschwunden ist. Ich stelle mir vor, wie der Mann mit einer Frau in ein Zimmer neben Andres geht. Ob sie sich gegenseitig hören können? Oder ist Andre schon fertig? Vielleicht zieht er sich schon wieder an. Und der Mann will dieselbe Frau haben, die gerade eben noch mit Andre zusammen war. Und dann ist er dort, wo Andre gerade eben noch gewesen ist. Der Gedanke beunruhigt mich.
Andre kommt heraus. Ich suche etwas an ihm, etwas, das anders ist als zuvor, aber ich finde nichts. Er sieht aus wie immer. Er sieht aus wie der Freund, den ich schon seit Jahren kenne. Oder geglaubt habe zu kennen.
Gehen wir, fragt er und ich nicke.
Wir laufen die Straße bis zum Ende durch. Keiner sagt etwas. Andre sagt nichts dergleichen, dass ich ja die Klappe halten solle oder dass die Sache unter uns bleibe. Ich frage ihn nichts.
Wir lassen den Sichtschutz der Straße und ihr rotes Licht hinter uns, Wandernde, die eine Sehenswürdigkeit passiert haben.
Miriam und Jenny sitzen in der Kneipe, vor der wir sie verlassen haben. Vor eintausend Jahren. Vier leere Schnapsgläser stehen vor ihnen. Sie lachen. Und sie schließen uns in die Arme. Miriam küsst mich und Jenny küsst Andre und, wie ich aus dem Augenwinkel sehen kann, er küsst sie.
Wir seien aber lang unterwegs gewesen. Ob es so viel zu sehen gegeben habe. Aber die Frauen warten auf keine Antwort. Zwei Schnäpse werden auf den Tisch gestellt, zwei weitere bestellt. Kurz darauf stoßen wir zu viert an.
Na, sagt Jenny und streicht Andre durch die Haare. So lange er keine der Frauen hübscher gefunden habe als sie, sei ja alles in Ordnung. Dann sehe sie nämlich rot. Dabei lacht sie.
Juli 2014