Ziel erreicht
Eine Bombe landet genau auf meinem Kopf. Glücklicherweise spüre ich davon nicht viel mehr als ein Vibrieren auf meinen Handflächen. Ich revanchiere mich mit einer Rakete und beende das Rennen erfolgreich als Erster.
„Knappe Runde, was?“ Mein Vater grinst mich an und legt den Controller auf den Tisch.
Ich grinse nur zurück. Klar doch.
„Noch ’ne Runde?“ fragt mein Vater und er klingt so begeistert, dass ich zustimmen muss.
Warum nicht? Semesterferien, nichts Besseres zu tun. Herausforderung: Nicht vorhanden. Spaßfaktor: Mittelmäßig. Aber: Nichts Besseres zu tun. Und mein Vater freut sich.
Wir starten eine neue Runde, lassen unsere Finger über die Tasten wandern.
Weitere Bomben werden verteilt, weitere Explosionen füllen das Bild.
„Die alte Hoffmann ist tot.“ Meine Mutter meldet sich plötzlich zu Wort und ihr Kopf taucht hinter der großen Zeitung auf.
Ich stoße einen meiner Konkurrenten eine Klippe hinunter.
„Habt ihr gehört, die alte Hoffmann ist tot.“
Ein gelber Igel mit überdimensionalen Stacheln rollt knapp an mir vorbei.
„Was hast du gesagt?“ fragt mein Vater und wagt nur einen kurzen Seitenblick auf seine Frau.
„Die alte Hoffmann ist tot“, sagt sie zum dritten Mal.
Ich knalle gegen die Wand. Vorteilhafterweise ist mein Fahrzeug gegen solche Unfälle gefeit und ich fahre weiter.
„Wer?“ fragt mein Vater und setzt zu einem Überholmanöver an. Vergeblich.
„Unsere Nachbarin.“
„Welche?“ frage ich.
„Die mit dem gepflegten Garten.“
„Ach so.“ Ich springe hoch durch die Lüfte und lande gerade noch auf der Fahrbahn ohne abzustürzen.
„Die heißt doch nicht Hoffmann, oder?“ sagt mein Vater und flucht, als er feststellt, dass er sich auf dem letzten Platz befindet.
„Doch, ich glaube das ist die“, sagt meine Mutter.
Ein dickes Gürteltier springt mir entgegen und drängt mich ab.
„Die mit dem gepflegten Garten?“
„Ja, ich glaub schon.“
„Hm“, sagt mein Vater.
Ich gewinne das Rennen und wir starren auf die wackelnden Worte „Die nächste Bahn wird geladen“ auf dem Bildschirm.
„Oder ist die das doch nicht?“ fragt meine Mutter. „Ich bin mir nicht mehr ganz sicher.“
Die Ampeln werden grün und wir fahren los.
„Zum Gedenken an meine liebe Frau, unsere liebe Mutter, unsere liebe Oma. Es vermissen dich Peter Hoffmann…“ Meine Mutter sieht auf. „Der ihr Mann heißt doch Peter. Das muss die sein.“
Eine weitere Bombe lässt mein Fahrzeug durch die Gegend wirbeln.
„Vielleicht schon“, sagt mein Vater.
„Wie alt war die denn, noch gar nicht so alt, oder? 65?“
„Keine Ahnung.“ Ich wollte auch mal wieder was sagen.
„Jetzt ist die einfach gestorben. An was nur?“ fragt meine Mutter.
„Scheiße! Verreck!“ Ich feuere einen Giftcocktail auf meinen Vordermann, der daraufhin in einem lodernden Feuer gegen die Wand donnert.
„Keine Ahnung“, sagt mein Vater.
Es entsteht eine kurze Pause. Keiner sagt etwas. Keine Bomben fliegen.
„Aber ist die das wirklich?“ fragt meine Mutter. „Ich will das jetzt wissen.“
„Guck doch ins Telefonbuch“, schlägt mein Vater vor. „Da kannste gucken in welcher Straße die wohnt.“
„Gute Idee!“ Meine Mutter öffnet die Schublade des Wohnzimmerschranks und kramt nach dem Telefonbuch. In der Zwischenzeit äußert mein Vater die Vermutung, dass er den schlechteren Controller erwischt hat.
Meine Mutter setzt sich zurück auf das Sofa und blättert im Örtlichen.
„Das ist ja die Nebenstraße, in der die wohnen, oder? Wie heißt die noch mal?“
„Beethovenstraße“, stößt mein Vater zwischen den Zähnen hervor. Sein Fahrzeug sitzt im Schlamm fest.
„Genau.“ Meine Mutter blättert eifrig weiter. „Hoff…Hoffeld…Hoffmann. Hier. Peter und Marianne Hoffmann, Beethovenstraße 2. Das ist die. Die ist tot.“
„Hm“, sagt mein Vater niedergeschlagen. Er überquert die Ziellinie als Letzter.
Ich lehne mich zurück und starre auf den funkelnden Pokal, der meiner Spielfigur unter buntem Konfettiregen überreicht wird.
Meine Mutter blättert die Zeitung weiter.